Humboldt Universität zu Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Musikwissenschaftliches Seminar
Studiengang Musikwissenschaft
53 407 "Das symphonische Schaffen Johannes Brahms' "
Dozent: Dr. Camilla Bork
Wintersemester 2001 / 2002
Die Symphonie bei Johannes Brahms
Eine Betrachtung unter geschichtlichen und theoretischen Aspekten der Gattung.
Vorgelegt von Felix Falk
Matrikelnummer: 174223
Berlin, im Dezember 2001
Gliederung
1. Einleitung...............................................................................3
2. Die Symphonie von ihren Ursprüngen bis zu Brahms'......4
2.1 Die Symphonie vor Brahms..........................................4
2.1.1. Der Ursprung der Symphonie.........................4
2.1.2. Joseph Haydn..................................................5
2.1.3. Ludwig van Beethoven...................................7
2.2. Die Zeit zwischen Beethoven und Brahms..................8
2.3. Brahms' symphonisches Schaffen................................9
2.3.1. Brahms' Weg zur Symphonie.........................9
2.3.2. "Beethovens Zehnte"....................................10
2.3.3. Umfang und Dimension................................11
2.3.4. Die Motivik...................................................12
2.3.5. Die Variationsarbeit......................................12
3. Zusammenfassung und Reflexion........................................14
4. Literaturverzeichnis..............................................................17
5. Abbildungsverzeichnis.........................................................16
1. Einleitung
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nimmt die Symphonie innerhalb der Gattungen eine besondere
Stellung ein. Sie wurde oft als die "höchste und zugleich repräsentativste Gattung
der autonomen Tonkunst" bezeichnet. Nach der klassischen Trias stehen Haydn, Mozart und
Beethoven aus heutiger Sicht im Mittelpunkt derer, die die Symphonie zur Krönung der Instrumentalmusik
gebracht haben. Als ab dem Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Kritiker
und Komponisten überzeugt waren, dass die Gattung ihren Höhepunkt erreicht und gleichzeitig
überschritten habe, entstand ein Konflikt. Für die Neudeutschen, zu denen vor allem
Richard Wagner und Franz Liszt zählen, war mit der neunten Symphonie Ludwig van Beethovens
das letzte Wort in dieser Gattung gesprochen worden. Schillers "Ode an die Freude"
verwendend und so die Sprache direkt einbeziehend, sprengte Beethoven die bisherigen Gattungsgrenzen
der Symphonie, worauf die Neudeutschen mit der Verflechtung von Musik und Literatur reagierten,
was zur "symphonischen Dichtung" führte. Besonders Wagner beanspruchte für
sich und seine Musikdramen die Position des "Beethovennachfolgers".
Die vier Symphonien Johannes Brahms' (1833-1897) entstanden genau in dieser Zeit und spielen
gerade wegen der neudeutschen Richtung, die zu seiner Auffassung als Gegenpol gesehen wird,
eine wichtige Rolle. Brahms bezog sich direkt auf Beethoven und entwickelte die Gattung auf
der Grundlage des Vorangegangenen weiter.
In dieser Arbeit soll zuerst der Weg der Gattung Symphonie von ihrem Ursprung bis hin zu Johannes
Brahms' aufgezeigt werden, um dann Teile seines symphonischen Konzepts darzustellen. Dabei
ist es nicht Anliegen des Textes, eine umfassende Theorie vorzulegen, sondern vielmehr exemplarische
Punkte und Gattungsaspekte hervorzuheben, die Brahms' Symphonien zu denjenigen Beethovens zueinander
in Beziehung zu setzen.
2. Die Symphonie von ihren Ursprüngen bis zu Brahms'
2. 1. Die Symphonie vor Brahms
2. 1. 1. Der Ursprung der Symphonie
Das Wort "Symphonie" kommt aus dem Italienischen (sinfonia) und läßt sich
mit "Übereinstimmung" oder "Harmonie" übersetzen. Nachdem es
in der Antike die Intervalle Quarte, Quinte und Oktave beschrieb, erweiterte sich der Sinn
des Wortes im Mittelalter über die Beschreibung der konsonanten Intervalle hinaus, hin
zum allgemeinen Musik- oder Gesangsbegriff. Noch im 15. und 16. Jahrhundert wurde ein Komponist
als "Symphoneta" bezeichnet. Ab 1600 stand "sinfonia" immer häufiger
für die rein instrumentale Musik, insbesondere für Vorspiele, wie beispielsweise
bei Claudio Monteverdies Werk "Orfeo". Der Begriff trug bis dahin keine bestimmte
Formangabe in sich. Der erste festgelegte Typus läßt sich bei der "venizianischen
Opernsinfonia" finden, die zweiteilig angelegt war.
Direkter Vorläufer der klassischen Symphonie wurde jedoch mit dem Ende des 17. Jahrhunderts
die "Neapolitanische Opernsinfonia", welche formgleich mit der italienischen Sinfonia
ist, die im Spätbarock hauptsächlich in Kirchen aufgeführt wurde. Der "Neapolitanischen
Opernsinfonia" liegen drei Sätze zu Grunde, die durch die Angaben schnell, langsam
und wieder schnell gekennzeichnet sind. Der erste Teil, der auch Kopfsatz genannt wurde und
in seiner Bedeutung über den anderen stand, enthält einen Modulationsplan, in dem
Zeichen für die spätere Sonatenform zu finden sind (Abb.1).
Kopfsatz (schnell)
ï: 1. Teil :ïï: 2. Teil 3. Teil :ï
Tonika-Dominante Dominante-Tonika Tonika-Tonika
Abb.1
Die Mannheimer und die Wiener Schule waren zu dieser Zeit, besonders in der Frühklassik,
durch ihre lokale Tradition von großer Bedeutung für die musikalische Lehre und
Theorie. Obwohl der Mannheimer Schule in vielen Bereichen der Entwicklung die Vorreiterrolle
zukommt, wurde um 1740, etwa gleichzeitig in beiden Schulen, teilweise das Menuett in die Symphonie
aufgenommen, so dass ein weiterer Satz hinzukam. Aufgrund der Entwicklung des Konzertgeschehens,
das sich nun auch an das Bürgertum richtete, anstatt ausschließlich am Hof zu existieren,
verdrängte die Symphonie immer mehr die Generalbaßgattungen Suite, Concerto grosso
und Triosonate, da diese eine kleinere, kammermusikalischere Ausrichtung hatten.
2. 1. 2. Joseph Haydn
Die Basis des symphonischen Konzepts, auf die sich die Komponisten der späteren Jahrhunderte
beziehen, wurde ausschlaggebend von Joseph Haydn (1732-1809) begründet. Er schrieb 104
Symphonien, mit denen er ein Modell etablierte. Die ersten Symphonien Haydns variieren von
opernhafter Dreisätzigkeit bis zur suitenhaften Fünf- und Sechssätzigkeit, doch
ab dem Jahr 1765 bildeten sich bei ihm die vier Sätze als einheitliche Struktur heraus.
Die Abfolge besteht aus dem Kopfsatz, in mittelschnellem oder schnellen Tempo, einem langsamen
Satz, einem tänzerischen Satz in raschen Tempo als Menuett oder Scherzo und dem schnellen
Schlusssatz (Abb.2). Die Außensätze stehen jeweils in der Tonika und die Mittelsätze
bewegen sich in verwandten Tonarten. Der Kopfsatz nimmt die bedeutendste Position ein, die
jedoch im Laufe der nachfolgenden Zeit vom Finalsatz eingeholt wird. Der langsame Satz ist
am wenigsten festgelegt und kann als Liedform (A/B/A) mit Coda, als reduzierte Sonatenform,
Variationenreihung oder Mischform gestaltet sein. Der tänzerische Satz hat dagegen in
der Regel eine klare Dreiteiligkeit zur Grundlage. Die Hauptform des Schlusssatzes ist das
Rondo.
Sätze der Symphonie
Kopfsatz
Sonatenhauptsatzform langsamer Satz
z.B. A/B/A+Coda tänzerischer Satz
Menuett/Scherzo Schlusssatz
Rondo A/B/A/C/A...
Abb.2
Zentral ist der Kopfsatz. Er wird definiert durch eine der wichtigsten Formen des 19. Jahrhunderts,
die Sonatenhauptsatzform und bezieht sich ebenfalls auf die bereits erwähnte Neapolitanische
Opernsinfonia. Die Exposition bzw. der Hauptsatz steht auf der Tonika, es folgt der Seitensatz
auf der Dominante, in der Durchführung werden beide Teile aufgenommen und moduliert, danach
folgt die Reprise des Haupt- und Seitensatzes auf der Tonika worauf die Coda, auf der Grundtonart
stehend, das Stück beendet.
Haydns Schwerpunkt liegt auf der kontrapunktischen Satzform und konzertanten Struktur, was
ihm ermöglicht Formen wie Fuge oder Kanon einzusetzen. Doch ab 1770 entwickelt er immer
mehr das Prinzip der thematischen Arbeit, welches sich in den Werken widerspiegelt. Besonders
mit den 12 Londoner Symphonien (1791-1795) schuf der Komponist den Typus der großen Konzertsymphonie.
In dieser Zeit nahm die Symphonie die Stellung der anspruchsvollsten Gattung der Instrumentalmusik
ein. Auch die damalige Aufführungspraxis spiegelt die Position der Symphonie wider. Das
Publikum war zahlreicher, das Orchester und die Aufführungsräume vergrößerten
sich, und es wurde zum Standard, die vier Sätze durch andere Programmnummern voneinander
zu trennen, um den Charakter des großen Konzerts noch stärker hervorzuheben. Die
Besetzung des Orchesters mit der Haydn zu seiner Zeit die Werke aufführte, umfaßte
ungefähr 30 Musiker und bestand aus dem 4-stimmigen Streicherapparat (mit Kontrabässen),
zwei Oboen oder Flöten, sowie zwei Hörnern und ein bis zwei Fagotte. Die Werkdauer
war mit durchschnittlich 20 Minuten, in Hinsicht auf die weitere Entwicklung, noch relativ
kurz.
Wolfgang Amadeus Mozarts symphonisches Schaffen fällt ebenfalls in diese Zeit. Es ist
von ähnlich großer Bedeutung wie das Haydns. Der Beeinflussung durch Mozart wird
jedoch für die Entwicklung der Gattung bei Beethoven und Brahms geringere Bedeutung beigemessen,
da sich beide eher auf Haydn bezogen als auf ihn. Aus diesem Grund soll sein symphonisches
Schaffen hier nicht näher erläutert werden, ohne jedoch seine generelle Bedeutung
negieren zu wollen.
2. 1. 3. Ludwig van Beethoven
Ludwig van Beethoven (1770-1827) schloss seine erste Symphonie erst als 30jähriger ab,
als sich schon die ersten Anzeichen für seine Ertaubung zeigten. Die vorsichtige Annäherung
an diese Gattung begründet sich aus der Achtung besonders vor Joseph Haydn, dessen späte
Werke als Maßstab galten. Beethoven bezieht sich in seiner Musik direkt auf Haydn und
auch auf Mozart. Schon der Kopfsatz seiner ersten Symphonie zeigt die starke Auseinandersetzung
mit ihnen.
An Beispielen für seine Neuerungen sollen hier nur einige genannt werden. Beethoven kompliziert
die Harmonik und setzt so eine neue Dynamik in Gang. Die motivisch- thematische Arbeit trat
besonders in der Sonatenhauptsatzform des Kopfsatzes immer mehr in den Vordergrund. In der
Durchführung verarbeitete er nicht nur das Hauptthema, sondern verlieh diesem Teil eine
dramatische Entwicklung, indem er die Harmonik beschleunigte und die Motivglieder rhythmisch
verkürzte. Der Gehalt und die Gestalt der Symphonie wuchs unter Beethoven. Die Sätze
entwickelten sich zum Zyklus, das Menuett wurde vom Scherzo verdrängt und der Finalsatz
gewann immer mehr an Bedeutung. Der Komponist ging mit seinen Symphonien den Weg zur Dramatisierung
und Monumentalisierung in der traditionellen Form. Er nutzte Signalmotive und gestische Themen,
die seinen Werken revolutionäre Züge geben. Beethovens Symphonien wurden in der Aufführungspraxis
nicht von anderen Stücken unterbrochen. Die Dauer vergrößerte sich auf 30 bis
40 Minuten und auch die Besetzung des Orchesters nahm gewaltigere Züge an. Es spielten
neben den Streichern, zweifaches Holz (Fl.; Ob.; Klar.; Fg.), vier Hörner, zwei Trompeten
und Pauken.
Die neun Symphonien Beethovens (1800-1824) lassen sich zu Werkpaaren ordnen, die gegenseitig
im Kontrast zueinander stehen. Diese Paarbildung wird im Laufe der Zeit für ihn immer
wichtiger, so dass die fünfte und sechste Symphonie am 22. Dezember 1808 sogar zusammen
uraufgeführt wurden. Der neunten sollte wahrscheinlich ebenfalls ein Pendant entgegengestellt
werden.
In den neun Symphonien Beethovens ist die Entwicklung der Symbolik besonders stark zu erkennen.
Ein Beispiel hierfür ist das Werkpaar der fünften und sechsten Symphonie (Pastorale).
In der fünften komponierte er den Weg von der Nacht zum Licht oder vom Kampf zum Sieg,
der besonders im Übergang vom Scherzo zum Finale gesehen wird. Die Pastorale dagegen zeichnet
das Bild der Naturfrömmigkeit und hatte, wie auch die fünfte, gerade wegen dieser
Symbolik eine große Wirkung auf die Gattungsgeschichte. Die bereits erwähnte neunte
Symphonie markiert den einschneidenden Punkt in der Entwicklung der Symphonie. Beethoven komponierte
eine Utopie von den Idealen der Aufklärung und der Revolution, in deren Zentrum der vierte
Satz steht. Um seine Idee zu verkünden, verstärkte er den musikalischen Ausdruck
seiner Freudenmelodie, indem er die Sprache einbezog und damit die Grenzen der Gattung sprengte.
2. 2. Die Zeit zwischen Beethoven und Brahms
Wie wichtig Beethovens Symphonien waren und sind, zeigt ein Zitat von Robert Schumann: "Wenn
der Deutsche von Sinfonien spricht, so spricht er von Beethoven: die beiden Namen gelten ihm
für eines und unzertrennlich, sind seine Freude, sein Stolz. Wie Italien sein Neapel hat,
der Franzose seine Revolution, der Engländer seine Schiffahrt usw., so der Deutsche seine
Beethovenschen Sinfonien..." . Diese Aussage zeigt nicht nur Beethovens Bedeutung, sondern
ist gleichzeitig Beleg für die auch nationalpatriotische Stellung, die die Gattung als
Ganzes einnahm. Doch nach Beethovens Schaffen galt das Höchste der Gattung der Symphonie
gemeinhin als erreicht und überschritten.
In der Musikwissenschaft wurde lange die These vertreten, dass aufgrund dieses unüberwindbaren
Standards den Beethoven geschaffen hatte, um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Gattung der
Symphonie in eine Krise geriet. Carl Dahlhaus sprach davon, dass "...fast zwei Jahrzehnte
lang kein Werk von Rang geschrieben wurde, das die absolute, nicht durch ein Programm bestimmte
Musik repräsentiert." In den neueren Publikationen ist diese Auffassung inzwischen,
ausschlaggebend durch die Arbeit "Die Sinfonie im Deutschen Kulturgebiet 1850 bis 1875"
von Rebecca Grotjahn, relativiert worden. Trotzdem zeigt auch diese Diskussion, dass die Auseinandersetzung
mit der Gattung für die Komponisten der damaligen Zeit sehr schwer gewesen sein muss.
In dem gleichen Konflikt sah sich auch Johannes Brahms.
2. 3. Brahms' symphonisches Schaffen
2. 3. 1. Brahms' Weg zur Symphonie
"Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem
zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen (Beethoven) hinter sich marschieren hört."
Dieser, seinem Freund Hermann Levi gegenüber geäußerte, Satz Johanes Brahms'
zeigt, wie hoch er die Gattung einschätzte und wie bewußt er sich dem Erbe Beethovens
war. Ähnlich wie dieser mit den Vorbildern Haydn und Mozart erst spät seine erste
Symphonie schrieb, fand die Uraufführung Brahms' Erster in seinem 44. Lebensjahr statt.
Zuvor hatte er sich mehrmals an Themen und Skizzen für Symphonien versucht, sie jedoch
alle wieder verworfen und nicht selten für andere Musikstücke verwandt. So wollte
er beispielsweise Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts einen Sonatensatz für zwei
Klaviere in eine Symphonie verwandeln. Diese Idee verwarf er jedoch ähnlich schnell, wie
auch spätere Versuche.
Nachdem er 1862 einen Symphoniesatz geschrieben hatte und ihn trotz des Drängens seiner
Freunde bis zur Veröffentlichung 12 Jahre liegen ließ, vollendete er sein, hauptsächlich
in Saßnitz auf der Insel Rügen entstandenes, erstes Werk der Gattung im Jahr 1876.
Diese Symphonie zeigt, dass der Komponist die Tradition Beethovens fortführen wollte.
Er knüpfte bewußt an ihn an. Doch wenngleich Beethoven für Brahms das größte
Vorbild war, so ist trotzdem zu ersehen, dass er in seine Kompositionen weit mehr als das einfließen
ließ und die Gattung weiterentwickelte. Im Folgenden sollen einige Aspekte herausgestellt
werden, um dies zu zeigen. Die Beispiele sind seine erste Symphonie, der Umfang und die Dimension,
die Motivik und die Variationsarbeit.
2. 3. 2. "Beethovens Zehnte"
Seit der Uraufführung Brahms' erster Symphonie sprachen und sprechen viele von ihr als
die "zehnte Symphonie" (Beethovens), was auf den starken musikalischen Zusammenhang
mit den Werken Beethovens hinweist. Brahms knüpfte an Beethoven an, indem er dieses Werk,
wie Beethoven seine fünfte Symphonie, in die Tonart c-Moll setzte und die Tonartendisposition
der Sätze übernahm. Einige Motive von Brahms sind ebenfalls seinem Vorbild entlehnt.
So findet sich mit seiner knappen rhythmischen Figur schon zu Beginn des Kopfsatzes (Abb. 3;
Takt 4-5) das Kernmotiv aus Beethovens fünfter Symphonie (Abb. 4) wieder, das nach drei
kürzeren Werten auf einem längeren endet. Dieses Motiv tritt an mehreren Stellen
im Werk und besonders deutlich in der Schlussgruppe (ab Takt 157) auf.
Abb. 3: Brahms
Abb. 4: Beethoven
Noch auffälliger wird die Verbindung zu Beethoven durch die Adaption des Freudenthemas
aus der neunten Symphonie (Abb.5 und 6). Über diese offensichtliche Anspielung äußerte
sich Brahms selbst in ironischer Weise: "Ja, und jeder Esel merkt das auch gleich".
Abb. 5: Beethoven
Abb. 6: Brahms
Die Übereinstimmung findet sich in diesem Beispiel besonders im Vergleich des Taktes 70
ff. des 4. Satzes der ersten Symphonie Brahms' (Abb.6) mit dem zweiten und dritten Takt des
dritten Viertakters des Freudenthemas aus Beethovens neunter Symphonie (Abb.5). Die Intervalle
sowie die Rhythmik sind in diesen beiden identisch. Einzige Ausnahme bildet die große
Terz auf die vierte Zählzeit des ersten Taktes bei Beethoven, die Brahms auf eine große
Sekunde reduziert.
Solche Verbindungen wurden von Brahms so deutlich herausgestellt, gerade um die Auseinandersetzung
mit Beethoven zu zeigen. Er adaptierte und imitierte nicht im negativen Sinne, sondern führte
die Gedanken seines Vorbilds fort. Es scheint, als wollte er eine Diskussion mit Beethoven
führen. Beispielsweise griff Brahms die Idee des Weges von der Nacht zum Licht auf, die
für Beethovens fünfte Symphonie von großer Bedeutung ist, richtete aber das
Finale eben nicht auf diese Freudenmelodie hin aus, sondern führt den Hörer zu zwei
ihm sehr wichtigen Bereichen, in denen der Mensch Höherem unterworfen ist: Natur (Alphornruf)
und Religion (Choral).
2. 3. 3. Umfang und Dimension
Johannes Brahms entschied sich für eine Besetzung ähnlich der Beethovens. Zu den
Streichern, zwei Holzbläsern (Fl.; Ob.; Klar.; Fg.), vier Hörnern, zwei Trompeten
und Pauken kamen lediglich ein Kontrafagott, sowie ein zweites Paar Hörner hinzu. Die
erweiterte Instrumentation läßt sich aus der größeren harmonischen Komplexität
und aus Brahms' Tendenz zu einer starken klanglichen Mittellage erklären. In der Werkdauer
orientierte er sich mit 30 bis 40 Minuten ebenfalls an Beethoven.
Mit der Viersätzigkeit blieb Brahms bei der klassischen Ausrichtung der Symphonie. Die
Mittelsätze treten im Gegensatz zu den gleichwertigen Außensätzen (Kopfthema
und Schlusssatz) zurück. Insgesamt ist die Symphonie final gerichtet. Diese Aufteilung
läßt sich auch in der höheren Dimension seiner vier Symphonien finden. Wie
bei Beethoven scheinen die Werke, erste und zweite sowie die dritte und vierte, jeweils zu
Paaren geordnet zu sein. Nach der langen Vorbereitungszeit für die erste Symphonie, vollendete
Brahms seine zweite nur ein Jahr später. Die dritte kam nach sechsjähriger Pause
im Jahr 1883, woran sich die vierte wiederum nach nur kurzer Zeit anschloss. Diese Entstehungsaspekte
und auch Zitate von Brahms sprechen dafür, dass der Schwerpunkt auf der ersten und vierten
Symphonie liegt. Diese beiden stehen in Moll und bilden den Gegensatz zur zweiten und dritten,
die so mit den Mittelsätzen innerhalb einer Symphonie verglichen werden können. In
der Literatur ist umstritten, ob Brahms vorhatte weitere Symphonien zu schreiben oder ob er
mit der vierten sein letztes Wort in der Gattung gesagt sah. Belegt ist jedoch, dass er sich
auch nach der vierten Symphonie weiter mit der Gattung beschäftigte, jedoch alle weiteren
Skizzen verwarf.
2. 3. 4. Die Motivik
Brahms' Bestreben war es, die vier einzelnen Sätze so gut wie möglich miteinander
zu verbinden. Dies erreichte er auf mehreren Ebenen. Er entwickelte eine kammermusikalisch-
dichte Satztechnik, indem er die einzelnen Sätze motivisch miteinander verband. Brahms
legte bei seinen Motiven dabei mehr Wert auf die Tonhöhe, intervallischen Zusammenhänge,
Beethoven dagegen mehr auf deren rhythmische Qualität. Alle vier Symphonien haben solche
intervallisch gedachten Motive. Dem grundlegenden Motiv der ersten liegen die Töne c-cis-d
zugrunde. Das der zweiten besteht aus d-cis-d, die betreffenden Töne in der dritten sind
f-as-f' (Abb. 7) und das Motiv der vierten Symphonie ist aus einer Terzenkette gebildet. Beethoven
hingegen entwickelte dagegen seine Motive rhythmischer, wofür das Beispiel der fünften
Symphonie aufgeführt werden soll (Abb.8).
Abb.7: Brahms
Abb.8: Beethoven
2. 3. 5. Die Variationsarbeit
Bevor Brahms sich die Komposition der Symphonien zutraute, arbeitete er intensiv in der Technik
des alten Kontrapunkts und der Variation. 1861 komponierte er "Variationen über ein
Thema von Haydn", die stark in Verbindung zu der Arbeit in den Symphonien stehen. Im symphonischen
Schaffen trieb er die Variation einzelner Teile so weit, bis daraus große instrumentale
Formen entstanden. Die Verarbeitung der Motive hatte zur Folge, dass er dadurch, obwohl er
den Themendualismus und den Sonatensatz (plus Coda) beibehielt, eine kontinuierliche Fortspinnung
entwickelte. Im Finale treffen die Motive und Themen aufeinander, so dass der Schlussteil weiter
an Bedeutung gewann. In seinen Symphonien verwendete er viel weniger Themen und Motive als
anderen Komponisten wie beispielsweise Beethoven, da Brahms besonders durch die Technik der
Variation seine Ideen immer wieder aufgriff und noch weiter verarbeitete. Bei Beethoven entwickelten
sich Motive und Themen zwar auch durch die vier Sätze, hatten aber nicht Brahms' fast
kammermusikalischen Reichtum an durchgeformten Einzelheiten sowie seine Fülle von Detailbeziehungen.
In seiner neunten zitierte Beethoven im vierten Satz aus den vorangegangenen Sätzen. Im
Gegensatz dazu wurden bei Brahms' die Zitate immer weniger und die gänzliche Einbindung
der Rückgriffe und Variationen in den formalen Kontext dafür zentral.
Ein Beispiel für Brahms' Technik der Variation stellt das Hauptthema des dritten Satzes
(Abb. 9) der dritten Symphonie dar, dass variiert im Seitenthema des vierten Satzes (Abb. 10)
wieder auftaucht.
Abb. 9: 3. Satz
Abb. 10: 4. Satz
Charakteristisch ist das zweimalige Ausgreifen nach oben. Einerseits ist dies im zweiten und
dritten, sowie im vierten und fünften Takt des Haupthemas im 3. Satz zu finden, die betreffenden
Töne des Beispiels sind es-g-f und dann es-b-as. Andererseits taucht es im 52. sowie im
53. Takt (Abb. Takt 1und 2) des Seitenthemas im vierten Satz auf (Abb. 10). Hier belegen die
Töne c-e-d und dann c-e-g die Variation. Exemplarisch ist dieses Beispiel gerade deswegen,
weil sich im Hinblick auf die intervallische Gestalt unzählige Verbindungen und Variationen
zwischen den Sätzen der Symphonien offenbaren.
Zeitgenossen bezichtigten Brahms, wegen der sparsamen Verwendung von verschiedenen Motiven
und Themen, der Einfallslosigkeit, doch gerade diesen Punkt führte Arnold Schönberg
später in seinem Aufsatz "Brahms the progressive" für die überragende
Weiterentwicklung der Gattung durch Brahms' Symphonien an. Es ging Brahms nicht darum Altes
durch Neues zu ersetzen, sondern nach dem Studium historischer Errungenschaften eine Weiterentwicklung
auf dieser Basis zu erreichen.
3. Zusammenfassung und Reflexion
Die Ursprünge des Begriffes "Symphonie" lassen sich schon in der Antike finden.
Als rein instrumentale Gattung mit einer symphonischen Form wird sie jedoch maßgeblich
erst von Haydn und Mozart herausgebildet. Ludwig van Beethoven spielte in dieser Tradition
aus heutiger Sicht eine besonders bedeutende Rolle, da er mit seinen Symphonien die Gattung
vielfältig weiterentwickelte und sie mit seiner letzten Symphonie an einen Punkt führte,
an dem die Grenzen gesprengt wurden. Als Reaktion darauf bildeten sich zwei konträre Gruppen.
Einerseits die Neudeutschen, welche die Gattung zur symphonischen Dichtung führten, und
andererseits die Richtung des Komponisten Brahms'.
Johannes Brahms sah die intensive Beschäftigung mit den alten Techniken des Kontrapunkts
oder der Variation als notwendige Grundlage an, um die Symphonien schreiben zu können.
Er bezog sich in seiner Musik auf sein Vorbild Beethoven und ging doch nicht dessen Schritt
zur Verbindung der Gattung mit Sprache. Brahms war sich bewußt, dass die traditionellen
Formen der instrumentalen Musik nur dann tragfähig sein würden, wenn er sie weiter-
und umdenken würde. Obwohl sich Brahms deswegen häufiger Kritik ausgesetzt sah, entwickelte
er die Gattung auf der Grundlage des Vorangegangenen weiter. Oder wie es Bernhard Rzehulka
in seinem Essay "Aus nichts etwas machen" beschrieb: "Erst die Öffnung
der geschichtlichen Dimension kann die Gegenwart mit Sinn erfüllen".
4. Literaturverzeichnis
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5. Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 nach: Michels ,Ulrich [Hrsg.]: dtv- Atlas Musik (Band I). Systematischer Teil, Musikgeschichte
von den Anfängen bis zur Renaissance, München (Deutscher Taschenbuchverlag) 2000,
Seite 152
Abb. 2: eigene Abbildung
Abb. 3: Schmidt, Christian M.: Brahms Symphonien, München (Verlag Oscar Beck) 1999, Seite
46
Abb. 4: Ulm, Renate [Hrsg.]: Die 9. Symphonie Beethovens. Kassel (Bährenreither Verlag)
1994, Seite 153
Abb. 5: Schmidt, Christian M.: Brahms Symphonien, München (Verlag Oscar Beck) 1999, Seite
52
Abb. 6: Schmidt, Christian M.: Brahms Symphonien, München (Verlag Oscar Beck) 1999, Seite
52
Abb. 7: Kretzschmar, Hermann: Führer durch den Konzertsaal, Leipzig (Breitkopf & Härtel)
1932, Seite 95
Abb. 8: Ulm, Renate [Hrsg.]: Die 9. Symphonie Beethovens. Kassel (Bährenreither Verlag)
1994, Seite 153
Abb. 9: Floros; Schmidt; Schubert: Johannes Brahms Die Sinfonie, Mainz (Schott Musik) 1998,
Seite 187
Abb. 10: Floros; Schmidt; Schubert: Johannes Brahms Die Sinfonie, Mainz (Schott Musik) 1998,
Seite 187